Woran erkennt man, dass wir uns in der heißen Phase des Wahlkampfs befinden? Daran, dass mein Twitter-Konsum und damit auch meine Bildschirmzeit in den letzten Wochen exponentiell gewachsen ist. Die diesjährige Bundestagswahl ist für mich ganz persönlich in zweifacher Weise eine Premiere. Es ist die Erste, die ich mit großem politischen Interesse und Bewusstsein verfolge. Und gleichzeitig ist es die Erste, die ich mit einem gewissen Medien-Fachwissen beobachte. Dementsprechend habe ich mich von den Tweets der Politiker*innen, Journalist*innen, Promis und „Normalbürger*innen“ nicht nur berieseln lassen, sondern habe mir auch den ein oder anderen Gedanken darüber gemacht, wie sich dieses im Wahlkampf so zentrale Medium auf diesen auswirkt.
Agenda Setting
Der Begriff „Agenda Setting“ wird in der Kommunikationswissenschaft lange ausschließlich und immer noch überwiegend genutzt, um die Wirkung von Journalismus zu beschreiben: Es geht dabei darum, dass Journalist*innen durch ihre Berichterstattung beeinflussen, welche Themen in der Gesellschaft stattfinden und als wichtig erachtet werden. Vereinfacht gesagt sprechen die Menschen darüber, worüber in den Leitmedien geschrieben wird.
Meiner Meinung nach verändern Social Media und dort ausgetragene politische Debatten diesen Prozess. Der Themenselektion durch Journalist*innen ist eine weitere Ebene vorausgelagert – die Debatten auf Twitter. Die Plagiatsvorwürfe gegen Baerbock, Laschets Lachen in der Flutkatastrophe und die Razzia im Finanzministerium sind nur wenige Beispiele für Themen, die zuerst auf Twitter hochgekocht sind bevor sie von klassischen Medien aufgegriffen wurden und so dann an eine breite Öffentlichkeit gelangt sind. Im Endeffekt haben immer noch die Tagesschau, der Spiegel und leider auch die Bild einen großen Einfluss darauf, welche Themen in den Köpfen der Menschen präsent sind, aber ich habe das Gefühl, dass diese Medien sich stark an den Debatten auf Twitter orientieren – das scheint zumindest einer von vielen Relevanz- bzw. Nachrichtenfaktoren zu sein.
Unausgewogenheit der Skandalisierung
Ob die oben geschilderte Entwicklung gut oder schlecht ist, darüber habe ich mir noch keine abschließende Meinung gebildet. Grundsätzlich finde ich es positiv, dass Twitter Einzelnen die Möglichkeit gibt, Themen in der Öffentlichkeit zu platzieren. Die Möglichkeit zu haben, für seine Interessen einzutreten und „Verbündete“ zu finden, passt auf jeden Fall zu meinem Demokratieverständnis.
Leider sieht die Realität aber so aus, dass Twitter nicht (nur) genutzt wird, um auf Missstände aufmerksam zu machen, mit Fakten aufzuklären oder eine inhaltliche Auseinandersetzung mit bestimmten Themen anzustoßen. Vielmehr ging es in den letzten Wochen – so mein Empfinden – um die Diffamierung von Personen, die Skandalisierung von Nebensächlichkeiten, die Erstellung von Feindbildern und die Verbreitung von Scheinwahrheiten. Einfach weil Letzteres auf Twitter – so will es die Aufmerksamkeitsökonomie – besser funktioniert.
Wenn Medien und die Öffentlichkeit Debatten also aus Social Media übernehmen, führt das zu der Unausgewogenheit der Skandalisierung, die wir in diesem Wahlkampf beobachten konnten. Der eine bezeichnet sich als „Klimakanzler“ obwohl wissenschaftliche Analysen des Wahlprogramms ergeben haben, dass dieses, was den Klimaschutz betrifft, de facto auf Unions-Niveau aka auf einem lächerlichen Niveau liegt. Die andere schreibt in ihren Lebenslauf, die sei Mitglied bei NGOs, deren Unterstützung nicht als Mitgliedschaft bezeichnet werden kann. Letzteres ist ein Skandal. Ersteres interessiert niemanden. Finde ich persönlich nicht normal.
Meinungsbildung & Filterbubbles
Der Agenda-Setting-Ansatz geht in seiner klassischen Form davon aus, dass die Medien zwar Einfluss darauf haben, über welche Themen die Menschen nachdenken, aber nicht wie sie darüber denken. Journalistische Berichterstattung sollte in der Regel neutral sein – Meinungsbeiträge müssen als solche gekennzeichnet sein. Natürlich hat jede*r Journalist*in eine persönliche politische Einstellung und jedes Medium eine politische Tendenz. Nichtsdestotrotz verpflichtet die Richtlinie 1.2 des deutschen Pressekodex Journalist*innen zur ausgewogenen Berichterstattung im Kontext von Wahlen: „Zur wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit gehört, dass die Presse in der Wahlkampfberichterstattung auch über Auffassungen berichtet, die sie selbst nicht teilt.“
In sozialen Medien gibt es weder Qualitätsstandards noch ethische Grundsätze. Hier verschmelzen Fakten, angebliche Wahrheiten und Meinungen. Politiker*innen, emotionsgeladene Bürger*innen, Journalist*innen, die dort privat unterwegs sind, Lobbyist*innen, … – jeder hat hier eine Stimme. Dieser Austausch kann wertvoll sein und es ist ein großes Privileg, nicht auf etablierte Medien angewiesen zu sein, um Botschaften nach außen tragen und Interessen vertreten zu können. Problematisch wird es aber dann, wenn Menschen den Konsum von journalistischen Medien, durch den von Social Media ersetzen. Wenn sie sich die Tagesschau sparen, weil sie denken, in einem Politikerlivestream auf Facebook oder unter einem Hashtag auf Twitter alles mitbekommen zu haben.
Auch die Filter Bubbles, die in sozialen Medien aufgrund der dort eingesetzten Algorithmen entstehen, sind wenig konstruktiv für die politische Meinungsbildung: Menschen werden nur mit Aussagen konfrontiert, die ihren eigenen Ansichten entsprechen. Das ist für eine Wahl, die derart richtungsweisend ist und ein gewisses Neu- und Anders-Denken erfordert nicht unbedingt die optimale Grundlage.
Insgesamt möchte ich Twitter in der politischen Debatte nicht mehr missen – schon alleine wegen seinem Unterhaltungswert. Nichtsdestotrotz finde ich einen bewussten Umgang damit wichtig – als Wähler*innen aber vor allem auch als Journalist*innen.
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