Wer sich noch an meine Jahresvorsätze für 2020 erinnert, erinnert sich vielleicht auch noch an den Punkt „mehr lesen“. Dem komme ich bisher ganz gut nach und bin zurzeit total im Lesefieber. Vor zwei Wochen habe ich ein Buch beendet, bei dem ich der Meinung bin, dass jeder es gelesen haben sollte: „Sprache und Sein“ von Kübra Gümüşay. Aus diesem Grund möchte ich hier eine Buchempfehlung aussprechen und zugleich denjenigen, die das Buch nicht gelesen haben und dies auch nicht vorhaben, meine liebsten Zitate aus „Sprache und Sein“ nicht vorenthalten.
Kübra ist Journalistin, Muslimin, politische Aktivistin, Feministin und Engagierte im Kampf gegen Diskriminierung. Alleine diese kurze Beschreibung unterstreicht die Notwendigkeit für uns Menschen in Kategorien zu denken – eines von vielen Themen, mit denen sie sich in ihrem ersten Buch beschäftigt. Zudem schreibt sie darüber, wie unsere Sprache unser Denken beeinflusst und wie unser Sprachgebrauch diskriminierend sein oder werden kann.
„Sprache in all ihren Facetten – ihr Lexikon, ihre Wortarten, ihre Zeitformen – ist für Menschen wie Wasser für Fische. Der Stoff unseres Denks und Lebens, der uns formt und prägt, ohne dass wir uns in seiner Gänze bewusst wären.“ (Gümüşay 2020: Kap. 1)
Mit diesem Vergleich unterstreicht die Autorin im ersten Kapitel die Relevanz dieses Themas und damit auch dieses Buches. Wir benutzen Sprache so selbstverständlich, ohne uns ihrer Macht so wirklich bewusst zu ist. Ohne zu verstehen, was die Worte, die wir nutzen und wie wir sie nutzen mit unserer Gesellschaft, unserem zwischenmenschlichen Zusammenleben, aber auch mit unseren eigenen Gedanken und unserem Weltbild machen. Genau aus diesem Grund ist es so wichtig, sich mal intensiv mit dem Thema auseinander zu setzen.
Hast du jemals da drüber nachgedacht?
1.
„Stellen Sie sich vor, Folgendes geschieht: Ein Vater und ein Sohn sind mit dem Auto unterwegs und haben einen Unfall, bei dem beide schwer verletzt werden. Der Vater stirbt während der Fahrt zum Krankenhaus, der Sohn muss sofort operiert werden. Bei seinem Anblick jedoch erblasst einer der diensthabenden Chirurgen und sagt: »Ich kann ihn nicht operieren – das ist mein Sohn!« Wer ist diese Person? Die Wissenschaftlerin Annabell Preussler verwendet dieses Beispiel, um zu verdeutlichen, welche Bilder sich aufgrund unseres Sprachgebrauchs in unseren Köpfen festsetzen. Die Antwort lautet: Es ist die Mutter.“ (Gümüşay 2020: Kap. 1)
Hast du jemals darüber nachgedacht, ob es tatsächlich, oder nur grammatikalisch, so ist, dass wir mit der Verwendung Maskulinum beispielsweise einer Berufsgruppe wirklich alle Geschlechter einbeziehen? Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin wirklich, bevor ich es gelesen hatte, nicht darauf gekommen, dass „einer der diensthabenden Chirurgen“ die Mutter sein könnte.
2.
Hast du jemals darüber nachgedacht, dass Dinge erst so wirklich existieren, wenn wir eine Bezeichnung für sie haben? Kübra spricht darüber, dass der Begriff „sexuelle Belästigung“ in den 1960er Jahren in den USA noch nicht weit verbreitet war und es keine gesellschaftliche Übereinkunft darüber gegeben habe, was man darunter wirklich versteht. Diese Definitions-Lücke war mehr als ein sprachliches Problem – es hatte zur Folge, dass diese Straftat nicht anerkannt wurde. Die Erfahrung der Opfer sexueller Belästigung war nicht existent.
„Erst mit der Verbreitung des Begriffes und eines geteilten Verständnisses von sexueller Belästigung konnte der Missstand auch gesellschaftlich problematisiert werden. Die Ohnmacht, die eine solche linguistische Lücke hinterlässt, ist immens: Weder sind Betroffene in der Lage, das Problem zu verbalisieren, noch sind sich die Täter*innen einer Schuld bewusst.“ (Gümüşay 2020: Kap. 3)
3.
„Wenn ICH, eine sichtbare Muslimin, bei Rot über die Straße gehe, gehen mit mir 1,9 Milliarden Muslim*innen bei Rot über die Straße. Eine ganze Weltreligion missachtet gemeinsam mit mir die Verkehrsregeln.“ (Gümüşay 2020: Kap. 4)
Hast du jemals darüber nachgedacht, dass die vielen Menschen das Recht genommen wird, als Individuum zu existieren? Wenn ich bei Rot über die Straße gehe, dann hat Romy sich nicht an die Verkehrsordnung gehalten. Für „Menschen wie Kübra“, die in dieser Gesellschaft als „Benannte“, wie sie sie nennt, leben, ist das allerdings nicht der Fall.
Dem hab‘ ich nichts mehr hinzuzufügen:
Zu der Frage, wieso emanzipierte muslimische Frauen ein Kopftuch tragen …
Zu der Frage wieso emanzipierte muslimische Frauen ein Kopftuch tragen. „Man kann nicht alles verstehen. Ich verstehe auch nicht, warum Leute bergsteigen. Ich muss es aber auch nicht unbedingt verstehen. Und ich glaube, genau darin liegt die Kunst: Menschen nicht zu drängen, ihnen Dinge so verständlich zu machen, dass sie es auch sich übertragen können.“ (Gümüşay 2020: Kap. 4)
Zu der Konvention des generischen Maskulinums …
„Es reicht nicht aus, dass Frauen – womöglich – mitgemeint sind, wenn sie nicht auch von allen mitgedacht werden, die den Begriff verwenden.“ (Gümüşay 2020: Kap. 1)
Zu der Frage wie man bestimmte Menschengruppen benennen sollte …
„Menschen so zu bezeichnen, wie sie bezeichnet werden wollen, ist keine Frage von Höflichkeit, auch kein Symbol politischer Korrektheit oder einer progressiven Haltung – es ist einfach eine Frage des menschlichen Anstands.“ (Gümüşay 2020: Kap. 3)
Zu Stereotypen …
„Ein Stereotyp ist wie ein Panzer. Doch er schützt nicht diejenigen, die ihn tragen, sondern die Ignoranz der Außenstehenden. Stereotype sind Panzer der Ignoranz, die die Ignorierten zu tragen haben.“ (Gümüşay 2020: Kap. 4)
Zu dem menschlichen Bedürfnis der Kategorienbildung …
„Die Welt braucht keine Kategorien. Wir Menschen sind es, die sie brauchen. Wir konstruieren Kategorien, um uns durch diese komplexe, widersprüchliche Welt zu navigieren, um sie irgendwie zu begreifen und uns über sie zu verständigen. (…) Es ist der Absolutheitsglaube, der aus Kategorien Käfige macht.“ (Gümüşay 2020: Kap. 4)
Ich könnte diesen Beitrag ewig fortführen, weil ich mir bei gefühlt jedem Satz dachte „Yes, girl!!“. Ich fand das Buch super angenehm zu lesen, weil es die perfekte Mischung aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlichen Erzählungen ist. Gleichzeitig emotional und informativ – ein Buch, das auf jeden Fall zum Nachdenken anregt und mir die 3 Tage, in denen ich es förmlich verschlungen habe, auf jeden Fall bereichert hat.
Falls ihr nicht gerne lest, oder euch vor dem Kauf des Buches erstmal mit der Autorin und ihrer Botschaft auseinandersetzen möchtet, kann ich die Sendung „Sternstunde Philosophie –Die Entgiftung der öffentlichen Kommunikation“ sehr empfehlen.
Was war bisher euer liebstes Buch in diesem Jahr? 🙂
Quelle: Gümüşay, Kübra (2020): Sprache und Sein. 1. Aufl. (E-book) München: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
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